Angemessen und realistisch

Nach dreizehn Jahren Diskussion scheint mir das Wohl des "Viktoriakarrees" nicht davon abzuhängen, ob und in welchem Umfang eine Tiefgarage oder Fahrradstellplätze vorgesehen werden. Es hängt auch nicht davon ab, wie laut der Baulärm sein wird oder welche Mindestfläche für den kleinteiligen, inhabergeführten Einzelhandel erreicht werden muss, sondern davon, ob dem "starken Partner von außen", in diesem Fall der Universität, möglichst bald Gelegenheit gegeben wird, seine realistischen Vorstellungen weiterzuentwickeln und seine Ziele zu verwirklichen. Die Bürgerinnen und Bürger, insbesondere die BewohnerInnen des Quartiers und seiner Umgebung, zu denen ich mich als langjähriger „Anwohner im Umfeld“ zähle, sollten sich freuen, dass das Viktoriakarree nach langer Zeit endlich eine Aufwertung erfährt, und den gegenwärtigen Planern ist hoch anzurechnen, dass sie die Vorläufigkeit ihrer Entwürfe im Zeichen der Zukunftsfähigkeit verstanden wissen wollen. Diese ist allerdings notwendig, um auf die sich noch abzeichnenden Bedarfslagen des Projekts „Forum des Wissens“ bis hin zu einem genauen Raumprogramm flexibel reagieren zu können.

Nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem „Grünen Innenhof“, der mir zunächst abgekapselt und hermetisch erschien, verstehe ich inzwischen, dass es sich um einen geschützten Raum handeln soll, der weitgehend der studentisch-universitären Öffentlichkeit und den BesucherInnen der Bibliothek und des Forums vorbehalten bleibt. Hoffen wir, dass das funktioniert, denn ein quasi halböffentlicher Raum, der abends seine Tore schließt, ist mir in dieser Form aus der Bonner Innenstadt noch unbekannt. Am ehesten würde ich ihn noch mit der Gartenanlage eines Museums, dem Gastgarten eines Restaurants oder, was die Aufenthaltsqualität angeht, mit dem Innenhof des Kunsthistorischen Instituts vergleichen. Die Gruppierung der Arbeitsbereiche im Bibliothekskomplex entlang der Fenster zum Innenhof und zur neuen Gasse (die Leseplätze werden hoffentlich wie in der UB bis in die späten Abendstunden genutzt werden können) finde ich sehr gelungen.

Ich schwanke allerdings noch, ob die Gasse, für die ich mich von Anfang an eingesetzt habe, tatsächlich aufgeht. Trotz aller Sorgfalt, mit der die Breiten und Raumhöhen bestehender Bonner Gassen zum Vergleich ausgemessen wurden, mache ich darauf aufmerksam, dass der geplante - doch eher schmale - Durchgang bei beidseitiger Bebauung in diesen Geschosshöhen infolge nicht ausreichender Besonnung eine Art neue Hinterhofatmosphäre entstehen lassen könnte (dies sehe ich auch bei der großzügigeren Variante 2 so); ich meine das nicht negativ, sondern weise nur darauf hin. Was die perspektivischen Ansichten nicht zeigen können, wäre vielleicht durch eine 3D-Simulation des Sonnenverlaufs oder ein Modell besser erkennbar. Für die Erdgeschosse wünsche ich mir jedenfalls viel Transparenz und gläserne Durchblicke, um die Verdichtung abzufedern. Unter dieser Voraussetzung würde ich nicht zu viel weitere Originalität oder animierende Struktur in die innere Gestaltung des neuen Wegeraums investieren, sondern erst einmal akzeptieren, dass eine Gasse eben eine Gasse ist. Sie bietet gewisse Möglichkeiten für die Selbstdarstellung des Einzelhandels, zwei, drei Bänke zum Verweilen könnten dort stehen, ein Baum, etwas Grün, alles andere muss sich danach richten, ob die Wünsche nach dauerhafter Belebung von der Realität erfüllt werden.

Die Konzentration auf den neu auszubildenden Quartiersplatz an der Franziskanerstraße als „den“ Bezugs- und Sammelpunkt leuchtet mir ein, da von hier aus der projektierte Haupteingang des Forums am nächsten zu erreichen ist. Dennoch überzeugt mich die Lösung nicht wirklich, ich bin sogar der Meinung, dass man hier gar keine „Lösung“ braucht, denn: zum „Quartiersplatz“ bzw. neuen Mittelpunkt des Geschehens würde der Bereich so oder so werden. Wozu bedarf es dann noch der zusätzlichen diagonalen Aussparung, die doch die allseits geforderte Wohnfläche reduziert? Solche Plätze sind in deutschen Fußgängerzonen häufig anzutreffen, auch Bonn verfügt über etliche, manchmal sind die gewünschten Effekte gar nicht überzeugend, aber um ihren Preis würde hier eine gewachsene urbane Struktur mit Charakter verschwinden, nämlich die durch den Universitäts-Ostflügel und den gegenüberliegenden ehemaligen Viktoriabadtrakt bedingte strenge Flucht der Franziskanerstraße, auf deren eigenem Charme die Anziehungskraft der kleinen Gastromeile, die sich hier mit der Zeit gebildet hat, nicht zuletzt beruht. Gerade im Hinblick auf den sich unmittelbar dahinter öffnenden Hofgarten empfinde ich diese Strecke als wohltuend. Die Neubebauung sollte sich weitgehend an der Lage der gegenwärtigen Bestandsbauten orientieren.

Bei aller nachvollziehbaren Fokussierung auf die Franziskanerstraße stellt sich auf das ganze Karree bezogen die Frage: Was fällt für die anderen Straßen ab? Nachdem neuerdings die Rathausgasse als Standort für das neue Stadtmuseum in Betracht gezogen wird und auch die Vorschläge zu ihrer Verkehrsberuhigung hoffnungsvoll für die künftige Entwicklung dieser Straße stimmen, gelangt insbesondere der Belderberg ins Blickfeld.

Wann, wenn nicht jetzt, bietet sich die Chance, diese seit Jahrzehnten empfundene Problemzone stärker an das Karree und damit an die Innenstadt anzubinden, Stichwort „Stadt zum Rhein“? Die Unterschutzstellung des Schwimmbadfensters und seiner Fassade erfolgte 2013 in der Hitze der Auseinandersetzung mit dem damaligen Kaufinteressenten, dem man es so schwer wie möglich machen wollte, aber diese Zeiten sind vorbei. Man muss sich nicht orthodox an ein Ei klammern, das man sich selbst ins Nest gelegt hat. Daher wünsche ich mir mehr Kreativität im Umgang mit dem Denkmalschutz. Es gilt, ihn nicht zu umgehen, aber für eine Auflockerung sehe ich mehrere Möglichkeiten: zum Beispiel die Rücksetzung der Fassade vom Gehsteig, um einen Grünstreifen zu schaffen; die Integration der vorhandenen Einzelfenster aus den unteren beiden Fensterreihen in ein mittig einzubauendes großzügiges Zugangsportal; oder das Entfernen der schmalen Raster-Betonstelen auf beiden Seiten (die zur Zeit noch die Notausgänge des früheren Schwimmbads enthalten), um Durchblicke oder Durchgänge zum Innenhof zu ermöglichen. Mir ist klar, dass die jetzt konzipierte Struktur der Bibliothek ein solches Vorgehen nicht vorsieht: In ihrer Funktion als Rückfront des Sicherheitsbereichs soll die Belderberg-Seite der neuen Bibliothek unzugänglich bleiben, sie entspricht insoweit der Rheinfront der UB an der Adenauerallee. Doch dort steht sie als Solitär erhaben über einer Uferpromenade, und hier ist sie ebenerdig mitten in einer Häuserzeile. Schon nach der Fertigstellung des Viktoriabades Anfang der 1970er Jahre empfand man den Baukörper, wie er sich am Belderberg präsentiert, als eine Spur zu groß für diese Gegend. Als Barriere, als Riegel, der die Trennung zwischen Rheinquartier und Innenstadt erst recht markiert, ist er mittlerweile in die Geschichte des Stadtraums eingegangen, man könnte es ändern.

Schließlich warne ich - wiederum mit Blick auf das Innere des Karrees und die für den Westteil vorgesehene nicht-universitäre Bebauung - vor der Illusion, dass in diesem trotz aller Auflockerungs- und Belebungsbestrebungen randständig bleibenden Innenstadtgebiet ein Wohn- und Geschäftsparadies so ohne weiteres entstehen könnte, nur weil man es will (und bisweilen meinte, es mit einer Art künstlichem Dorf bewerkstelligen zu können). Zum Wohnen: Jede Wohnung, die hier neu geschaffen wird, kommt tatsächlich neu hinzu und kompensiert keine andere, denn ein Abriss von bestehendem Wohnraum ist definitiv nicht vorgesehen. Dennoch: für mich ist das keine reine Wohngegend, ich empfände sie als nicht passend. Woher sollen denn die Besucherströme kommen, wenn nicht die Tagesöffnungszeiten von ansässigen Geschäften, Dienstleistern etc. dazu Anlass geben? Klar ist, dass die obersten Geschosse Wohnungen enthalten sollten, aber für die mittleren Geschosse stelle ich mir verstärkt Büroräume mit Publikumsverkehr vor, etwa Arztpraxen, Beratungsstellen oder kulturelle Einrichtungen. Und selbst wenn die Erdgeschosse dann weitgehend dem Einzelhandel vorbehalten bleiben, ist das für mich noch lange kein neues „Gewerbegebiet“, denn wovon reden wir? Von vielleicht drei oder vier Geschäften, die sich hier niederlassen könnten. Die Planung setzt darauf, dass diese Geschäfte von der Fluktuation am neuen Quartiersplatz oder auch vom neuen stadtgesellschaftlich-universitär-kulturellen Treffpunkt an der Gasse profitieren, ich sehe das mit Vorsicht. Sind dies die Käuferschichten, die man anziehen will bzw. stimmt es, dass sich ein studentisches Publikum sich in seiner Umgebung die ihm entsprechende Einzelhandelslandschaft automatisch selbst schafft? Bisweilen ist es so, etwa bei der Grimm-Bibliothek der Humboldt-Universität in Berlin, aber rings um die Bonner UB sehe ich keine solche, obwohl die UB ein viel und gern besuchter Ort ist. Als „kommerzielles Gastro-Unternehmen“ reicht dort bei täglich über tausend Besuchern eine Cafeteria aus.

Gewerbliche Potentiale im diesbezüglich noch unerprobten Innenbereich des Viktoriakarrees können derzeit nur im gegebenen örtlichen Zusammenhang gesehen werden. Es stellt sich die Frage, wie es sich mit dem Abschnitt der Rathausgasse zwischen Stockenstraße und geplanter Franziskanergasse verhält. Hier von einer Attraktivitätssteigerung zu sprechen, ist kaum möglich, da Attraktivität hier schlichtweg überhaupt nicht mehr vorhanden ist, sondern von Grund auf völlig neu entwickelt werden müsste. Aber von hier führt die Linie in die City, nicht von der anderen Seite des Karrees. Seit langen Jahren sind wir infolge erheblicher Vernachlässigung daran gewöhnt, diese Gegend als tote Region wahrzunehmen. Was sie einmal war, ist längst vergessen, aber sie war es: befördert von der Altstadtumlegung in der Nachkriegszeit entstand von hier aus die klassische Hauptverbindung zwischen Stadt und Rheinufer neu, und für den Übergang zwischen Innenstadt und ihrem südöstlichen Bereich bildete die Ecke Rathausgasse / Stockenstraße für Jahrzehnte aus allen Richtungen gleichermaßen ein Entree. Die magnetische Wirkung dieser Ecke für die Kundenströme aus der Fußgängerzone war prägend für das gewerbliche Geschehen in den umliegenden Bereichen, die „Dahm-Ecke“ war einmal der lebhafteste Punkt des Karrees. Als in den 1990er Jahren die Eisenwarenhandlung Dahm, die sich zuletzt zu einer Art Vorläufer des Bau- und Hobbymarktes entwickelt hatte, ihren über 150-jährigen Sitz hier aufgab, ging eine Kerze aus, und die Publikumsfrequenz wurde schwächer und schwächer. Seitdem hat sich nichts Vergleichbares mehr getan, sieht man einmal von der Backwarenhandlung ab, die sich über einige Jahre gut halten konnte und von der Anziehungskraft der Ortslage nicht zuletzt auch deshalb profitierte, weil sie ihrerseits anziehend und freundlich war.

In früheren Diskussionen war die einst prominente Ecke ein Thema, jetzt ist sie es nicht mehr. Auch wenn es also nicht hierher gehört, möchte ich doch hoffen, dass sich die neuen Eigentümer des Grundstücks und des Eckhauses Rathausgasse / Stockenstraße bewusst sind, über welche Spitzenlage sie verfügen und nicht auf die Idee kommen, hier das 57. Café der Innenstadt einziehen zu lassen, das im Grunde kein Mensch braucht.

Berücksichtigung von Bedarfszwecken, wie ich sie in diesem Bereich vor allem in der Lebensmittelnahversorgung sehe, Anziehungskraft durch wirklich gute Angebote, eine florierende Einkaufsregion im Kleinen, die man gerne betritt - natürlich wünsche ich mir das für die Geschäftszone entlang der Rathausgasse bis in die neue Franziskanergasse hinein, gerade nach einer langen Zeit der mit der Vernachlässigung einher gehenden Verwahrlosung (und übrigens in der absoluten Gewissheit, dass diese Ecke bei entsprechender Gestaltung ihre frühere, ganz wesentliche Funktion als Gewerbemagnet wieder aufnehmen könnte).

Wenn sich aber für diese Vorstellung keine Perspektiven erzielen lassen, dann empfehle ich, für die westliche Gassenbebauung im Inneren des Karrees eine andere Disposition zu entwerfen, etwa in Form eines größeren Büro- und Wohnkomplexes mit vielleicht ein oder zwei Mietflächen für Gewerbetreibende, der aber im Wesentlichen aus sich selbst heraus aktivierbar ist und der permanenten Laufkundschaft nicht in erster Linie bedarf. Er entspräche in seiner Grundform noch am ehesten dem in dieser Region verbreiteten Typus des „Wohn- und Geschäftshauses“, wie es auch in den Erläuterungen zum städtebaulichen Konzept richtig erkannt wird, ich füge hinzu: in all seiner Schlichtheit und im Unterschied zu Faktoren, die von vornherein zu sehr auf „Erlebniswelten“ setzen. Ob sich dann Erlebniswelten organisch bilden, muss sich zeigen, die Bebauung kann dafür einen konstruktiven Ansatz liefern, aber keine Bedingung sein. Solange nicht klar ist, was aus der Rathausgasse in diesem Abschnitt wird, fehlt - wie ich meine - ein wichtiger Anhaltspunkt für Aussagen über Art, Architektur und Aussichten des im Karree-Inneren wünschenswerten Gewerbes.